Die Luft zum Atmen
Wein gehört zu den wenigen Lebens- oder Genussmitteln, die eine Zeit lang durch Reifung deutlich besser werden können. In gewisser Weise ist der Wein ein lebendiges Subjekt. Zwar ohne Geist und ohne Nervensystem, aber doch mit Verbindung zur Außenwelt und eigenem Charakter. Wein reagiert auf Temperatur und Feuchtigkeit bei der Lagerung, vor allem aber reagiert er mit der Luft. Hat ein Wein Luftkontakt, oxidiert er. Und genau das passiert beim Dekantieren und Karaffieren.
Seine Farbe wird braun, und der Geschmack verschiebt sich von der Frucht hin zu Aromen wie Walnuss und Erde. Das ist bei manchen Weinstilen, wie beispielsweise dem Colheita-Port, dem Madeira, den meisten Sherry-Arten oder Jura-Weinen wie dem Vin Jaune sogar erwünscht. Solche Weine werden offen ausgebaut und werden bereits im Keller der Produzenten oxidiert. Oxidation ist also nicht automatisch ein Fehler. Sie wird erst dann zum Problem, wenn Weine, die beispielsweise aus dem Burgund oder aus Bordeaux, dem Piemont oder dem Priorat stammen, oxidieren. Das ist nicht erwünscht.
Passieren kann dies zum einen durch Überlagerung im Keller. Vor allem, wenn der Korken die Flasche nicht mehr richtig versiegelt hat und Luft eingedrungen ist. Zum anderen kann ein Wein aber auch dann oxidieren, wenn man lange gereifte Weine längere Zeit vor dem Servieren in Dekanter mit großer Oberfläche schüttet. Weinen, die nicht mehr ganz stabil sind, wird diese große Luftoberfläche, der sie dann ausgesetzt sind, nicht gefallen. Man kann ihnen geradezu zusehen, wie sie ihre Kraft verlieren und braun werden. Deswegen ist es wichtig, zu wissen, welche Weine man guten Gewissen dekantieren kann.
Beim jungen Wein ist der Luftkontakt in der Karaffe dagegen oft erwünscht. Viele junge Weine brauchen diese Luft, um sich zu öffnen. Das gilt auch für Weißweine. Und es gilt vor allem für jene Weine, die für eine lange Lagerung ausgelegt sind und trotzdem früh geöffnet werden. Weine also, die relativ viele Gerbstoffe haben, im Holz ausgebaut wurden oder die eine lange Maischestandzeit hatten, in der viele Gerbstoffe und Phenole aus den Traubenhäuten und Kernen in den Saft gelangt sind. All diese Weine profitieren von einer Luftverwirbelung, denn diese macht die Weine offener, sodass sie balancierter schmecken.
Das Karaffieren
Den Vorgang des Umschüttens in eine Karaffe nennt man Karaffieren. Das Karaffieren setze ich ein für Riesling, Chardonnay, Chenin Blanc oder Sauvignon Blanc aus dem Holzfass, erst recht für junge Bordeaux, Syrah und auch für Burgunder, die ich schon probiere, obwohl sie eigentlich noch zu jung sind. Ein Bordeaux Grand Cru Classé aus einem der großen Jahrgänge wie 2012 oder 2013 beispielsweise ist eigentlich zum Öffnen noch viel zu jung. Solche Weine sind darauf angelegt, zehn oder fünfzehn Jahre im Keller zu schlummern, bevor man sie öffnet. Während dieser Zeit entwickeln sie sich langsam mit dem in der Flasche befindlichen Sauerstoff und reifen so zu harmonischem Genuss heran.
Öffnet man sie doch, brauchen sie Luft, um sich zu glätten und das viele Tannin des langen Holzfassausbaus zu bändigen. Werden diese Weine älter, haben sie also die zehn Jahre und mehr überschritten, werde ich die Flaschen am Abend vor dem eigentlichen Anlass öffnen, einen Schluck einschenken, um zu prüfen, ob der Wein in Ordnung ist und den Wein dann offen an einem kühlen Ort stehen lassen. So bekommt er zwar Luft, aber nicht zu viel. Ein Riesling Großes Gewächs oder ein weißer Burgunder Grand Cru, der ebenfalls erst zwei, drei oder einige wenige Jahre mehr gelagert wurde, profitiert ebenfalls von Luft und auch diese Weine werde ich karaffieren. Dies tue ich normalerweise ein bis zwei Stunden vor dem Ausschenken.